DUNKEL

Update 5. Mai 2014: gerade die restlichen Texte zu diesem Ereignis gefunden (Notizen aus diversen Therapie-Sitzungen in den tiefen achziger Jahren).

Therapiesitzungen mit nachfolgenden Eindrücken/Gefühlen/Notizen:

Ich:

  • Vorhin war um mich herum noch Licht, war Bewegung, war Leben …
  • dann brachte mich die Andere hierher, schon wieder. Jetzt ist es wieder fast dunkel um mich. Ich sehe vor mir nur eine Wand mit Flecken. Es ist fast still, nichts mehr bewegt sich, die Andere läuft weg, kommt nicht mehr.
  • Ich schreie, bewege mich wie wild … nichts nützt es, es bleibt dunkel, still, alles bleibt bewegungslos um mich. Ich bleibe sehr lange in diesem Ort, immer wieder, lange, immer wieder …
  • Zwischendurch sehe ich kurz Menschen, Farben, Töne, Helligkeit, dann wieder lange dieses Dunkel. Die Angst vor dieser Stille ist übermächtig, ich kann nichts machen.
  • Als die Andere wieder wegläuft, nicht auf mein Schreien reagiert, spüre ich in mir die Möglichkeit einer Wahl: entweder ich suche weiter ausserhalb von mir nach Tönen, Farben, Helligkeit, Menschen und will dies alles, und dann spüre ich den stechenden Schmerz in mir weiter, oder ich verankere mich an diesem Punkt im Innersten, den ich gerade entdecke, den Punkt der Ruhe gibt, der Punkt der IST.
  • Wenn ich zuinnerst an diesem Punkt verweile, sehe ich durch ihn hindurch, auf Distanz, weit weg, was woanders los ist. Ich verstehe plötzlich, was um mich vorgeht, dort drüben, im anderen Raum, wo meine Eltern am Tisch sitzen und leise reden, beide etwas bedrückt. Ich sehe, was in ihrem Kopf vorgeht, ich sehe, dass sie in einem Teil ihres Kopfes Bilder haben, und in einem anderen Teil in ihnen etwas ganz anderes läuft, fast das Gegenteil. Wenn ich durch diesen Punkt hindurch sehe ist der Schmerz weg. Er ist weg und ich weiss, ich bin da, ich existiere.
  • Diese Haltung wird mir später, ein ganzes Leben lang, immer dann helfen, wenn der Rest der Welt aus den Latschen zu kippen scheint, besonders dann, wenn die Andere wieder einmal nur herumschreit.

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ES:

  • Ich bin im Dunkeln und spüre das Leben. Dieses Leben will ich.
  • Ich bin regungsloses Nichts-Sein, aber da ist Bewegung. Ich will dieses Leben, ich will dieses Leben (auch) sein.
  • Ich bin zwischen Dunkel und Leben, ich bin Dunkel und Leben gleichzeitig. Ich bin beides, will aber weg vom Dunkel, hin zum Leben.
  • Ich will immer weniger nichts sein, immer mehr Leben sein.
  • Alles, was ich als Leben erfahre, sind sprühende Lichtfunken, die wie ein Feuerwerk am schwarzen Nachthimmel meines Nichts-Sein hervortreten, ihre Bahn ziehen, ihre Bestimmung erfülen, einfach existieren.
  • Ich existiere mit ihnen, aber ohne eigene Bewegung, ohne Hingabe, kein Leben, keine Existenz, ich schaue nur zu, bin nicht dabei.
  • Ich will aber existieren.
  • Genau, ich entscheide mich, dazuzugehören. Aber ich werde den Eindruck nicht los:nicht ich habe entschieden, sondern ES hat sich von selber so getroffen und ich akzeptiere es als meinen Entscheid. In dem Moment besteht kein Unterschied zwischen Ich und ES.
  • Alles ist eins.

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Ich:

  • Der erste Blick meiner Mutter: gemäss ihrer immer wieder gemachten Aussage habe sie Mitleid mit mir gehabt, als wir zwei uns zum ersten Mal anschauten. Ich hätte am ersten Tag übrigens nur ein Auge aufgemacht.

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ES:

  • Ich will auch existieren. Ich möchte mitsingen am Chor des Universums, mitmachen am Gewebe der Existenz, mitexistieren am Rausch der Lebensfreude, mitjubeln in der Fülle der Vielfältigkeit, mitsein mit dem Einssein, mitspielen mit dem Viele Sein …
  • … s t o p   z e r r i s s e n …
  • ich bin alleine, im dunkeln, wo die andere mich gelassen hat, zurück am Anfang … … …

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Ich:

  • ein tiefes Loch ist da, das Bewusstsein der Eltern weit weg, mal als konkrete Gestalten, aber leer, ohne Inhalt.
  • Ich mag es zwar, wenn sie kommen, aber deren Nahesein füllt nur das Formelle auf, das andere bleibt leer.
  • Ich hasse meine Eltern, weil sie mich leer lassen. Ich leide durch die zwei.
  • Ich bin mir kaum bewusst in meiner Existenz, auch weil ich diese so nicht akzeptiere.
  • Ich formuliere nicht mit Worten, ich spüre nur in ganzheitlichen Bildern.
  • Ich bin ohne Zeitgefühl und weiss, dass ich verloren bin, weil alles ewig sein wird, ohne Anfang und Ende.

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ES:

  • Mir ist schlecht. Im Magen sehr schlecht, mit Krämpfen.
  • Ich möchte sterben. Ich bin alleine und weiss es nicht. Ich fühle mich schlecht und bin überzeugt, dass es mein Fehler ist, meine Schuld, ich bin nicht fähig, das sprudelnde, berauschende Leben zu leben, das ich kurz irgendwie erfassen konnte, es als Erfahrung in mir weiss.
  • Ich möchte sterben und doch leben. Mein Wille im Kopf entscheidet, mit der letzten Kraft, die noch da ist: ich will leben.

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Ich:

  • Stillen: Mutter erzählte, sie hätte mich nicht stillen können, aus ihrer Brust sei nur Blut gekommn, keine Milch. (Mein Kommentar: so wie ich sie kenne, hatte sie die Brustwarze nicht genug in meinen Mund gsteckt und ich biss bloss auf die Brustspitze. Typisch).

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  • Ich mache zu, um den Hass, die Schuld am eigenen Schlechtsein nicht zu spüren. (Mein Kommentar: und genau darum bin ich unterwürfig) …

… … irgendwie geht es weiter …

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Nachwort:

Später, irgendwann, hatte meine Mutter mir einmal voller Stolz erzählt, sie habe besonders gut zu mir geschaut, da ich auch tagsüber immer habe lange schlafen müssen.

Als ich fragend nachhacke gestand sie schliesslich, sie habe mich auch noch mit drei, vier Jahren stundenlang im dunkeln Zimmer zum schlafen gelegt, damit ich besonders gut gedeihe. Wie ein kleines Baby wurde ich vom Leben entfernt, wie eine Topfpflanze behandelt (zwar ohne Licht, aber solche Feinheiten waren meiner Mutter fremd).

Ich bin unfähig, sie dafür auszuschimpfen … irgendwie hasse ich sie bloss weiterhin …

Als Kind war ich noch längere Zeit hellsehend, noch mit 14 war ich fähig, beim Familienspiel zu sehen, wo die Karten waren, ich musste nur in die Köpfe der Leute schauen. Mit dem Erwachsenwerden verlor sich dann diese Gabe. Aber noch heute merke ich was zu tun ist, wenn echte Gefahr droht, auch wenn ich diese Gefahr nicht bewusst merke. Ich befolge IMMER, was in mir aus dieser inneren Ecke kommt.

Ich muss anhängen, dass erstens meine Mutter in ihrem Kopf nie richtig war. Und weil wir nur unterste Volkschicht waren, hat das niemanden gekitzelt, dass da eine Mutter ihr Kind vercheibet. Andererseits erzählt sie, dass sie selber auch so behandelt worden war und, wie ich erst nachher merkte, hat sie dies auch als richtig eingestufet: sie wurde nicht von ihrer Mutter erzogen, sondern von ihren kaum älteren Schwestern, welche sie scheinbar genau so behandelten.

Als 13. Kind von Grossvaters zweiter Frau war Ihre Mutter 45 Jahre alt, als sie auf die Welt kam. Diese Grossmutter war komplett ausgelaugt, hatte nur mit ihren Kindern geredet, wenn sie diese ausschimpfte. Mehrere Kinder, welche kurz vor meiner Mutter geboren wurden, starben alle nach wenigen Tagen oder Wochen.

Ich empfinde es als einen Verrat, was da passierte und dass die restliche Gesellschaft, die restliche Familie, die Nachbarn nicht fähig waren, ein minimum zum Rechten zu sehen. So liefert man ein Kind nicht an seine verrückte Mutter aus.

Heute allerdings bin ich überzeugt: adelige Eliten haben seit dem Mittelalter dafür gesorgt, dass wir dummes Volk dumm bleiben sollen. Hier NICHT zum Rechten zu sehen hatte daher Programm. Erst seit Ende der sechziger Jahre wächst das Bewusstsein in unserer Gesellschaft, weniger Entwickelten weiter zu helfen. Früher wurden wir höchstens ausgespottet, gar ausgeschimpft … oder auch einfach nur verachtet (Blicke der Nachbarn, der Primarlehrerin … später war ich dann innerlich wohl abgehärtet, sah diese Blicke seither nicht mehr, schaue selber auch weg).

(Geschieben wohl in den Achzigerjahren, jeweils nach einem der vielen Meditationskissen-Therapiekurse, welche ich zwischen Dezember 1986 und August 1991 absolvierte. Das oben Beschriebene kam mir nach oder mitten in einer Uebung als Gesamtbild hoch, inklusive Gefühl. Am Ende schrieb ich dann alles auf.
Erst viel später kombinierte ich dieses Bild mit der früheren Aussage meine Mutter, sie habe mich immer so viel und so lange schlafen gelegt, auch noch mit drei, vier Jahren, damit ich besonders gut gedeie.
Dass meine Mutter nicht ganz richtig im Kopf war hatte ich erst bemerkt, als ich 1964 bei Piaget in Genf, zusammen mit meinem Mann, ein – nie beendetes – Psychologie-Studium anfing, als freie Zuhörerin ohne Matura. Vorher wusste ich einfach nur: ich bin anders als die anderen um mich herum, kann aber nichts machen
).

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